
Morgens checke ich an meinem Arbeitsplatz zuerst meine E-Mails. Wie jeder regelmäßige E-Mail Nutzer habe ich inzwischen zwar ein geschultes Auge, welche E-Mails tatsächlich gelesen werden sollten, es ist aber eine Tatsache, dass ca. 80% aller E-Mails nichts anderes als Betrugsversuche oder mindestens unlauter sind. In meinem Postfach befindet sich also hauptsächlich Lug und Trug.
Neulich fragte ich in meinem Freundeskreis, wie sie reagieren, wenn sie von einer unbekannten Nummer angerufen werden. Die meisten meinten, dass sie den Anruf wegdrücken, weil es höchstwahrscheinlich nur ein belästigender Werbeanruf ist.
Als Unternehmer ist das noch schlimmer. Täglich werde ich mit Werbeanrufen konfrontiert. Als junger Unternehmer war ich häufig noch offen und hörte mir die Angebote an. Manches nahm ich sogar an, denn die Versprechungen sind mitunter sehr verlockend.
Nicht einmal hatte ich erlebt, dass sich ein solches Geschäft für mich ausgezahlt hätte. Geschäfte, die über telefonische Kaltakquise zustande kamen, hatten sich ausschließlich nur für den Anrufenden rentiert. Die Verträge sind dabei stets so gehalten, dass es sich um eine Dienstleistung handelt, die kein konkretes Ergebnis verspricht. Somit ist der Anbieter rechtlich nicht angreifbar, wenn der Verdacht entsteht, dass für das gezahlte Geld keine angemessene Gegenleistung erbracht wurde.
Vor ein paar Tagen sah ich im Montags-Check im Ersten, wie Hersteller mit den Füllmengen tricksen, um immer höhere Margen zu erwirtschaften. Der Kunde wird hierbei systematisch übertölpelt. Auch wurde beleuchtet, wie Angebote für Bestandskunden als Treuebonus verkauft werden, sich aber bei genauer Betrachtung als schlechtere Angebote herausstellten, als Angebote für Neukunden. Kaum ein Geschäftsbereich scheint heute noch ohne Lug und Trug auszukommen.
Traurige Stilblüten des Kapitalismus
Ich finde es erschreckend, wie wir solche Zustände inzwischen als normalen Alltag betrachten. Wir rechnen damit, dass uns jeder jederzeit übervorteilen könnte und akzeptieren dies als unsere gesellschaftliche Realität. Die verbleibenden Gutmütigen, die sich ihre positive Einstellungen gegenüber ihren Mitmenschen noch bewahrt haben, sind dabei genau die potentiellen Opfer, welche unseriöse Geschäftsleute auf dem Schirm haben, um deren Naivität zum eigenen Vorteil auszunutzen.
Ist es nicht ein sehr trauriger Zustand, dass Menschen im kapitalistischen System häufig nur noch aus dem Blickwinkel betrachtet werden, mit welchen Methoden ihnen am effizientesten das Geld aus der Tasche gezogen werden kann? Lug und Trug ist zu einer betriebswirtschaftlichen Disziplin geworden. Ist das gesellschaftlicher Fortschritt?
Ursache und Wirkung
Wie konnte ein solch rascher Zerfall zivilisierender Werte zu Gunsten des Geldes stattfinden? Eine mögliche Herleitung ist die Betrachtung der Vorbilder. Beinahe täglich nehmen wir war, dass viele finanziell erfolgreiche Leute sich mitunter durch Charakterlosigkeiten auszeichnen. Beispiele gibt es unzählige.
Moralisch besonders verwerflich empfinde ich noch heute die Banken, welche 2008 durch ihre grenzenlose Gier in Schieflage gerieten und durch Steuergelder gerettet werden mussten, weil sie angeblich systemrelevant sind. Zur Rechenschaft gezogen wurde keiner der Spitzenbanker. Völlig überzogene Gehälter gönnen sie sich aber bis heute.
Ein gutes Beispiel ist auch Marc Zuckerberg, der seine Idee für Facebook von seinen Kommilitonen gestohlen hatte und heute dadurch einer der reichsten Menschen der Welt ist.
Ein aktuelles Beispiel ist der Steuerskandal, welcher durch die „Paradise Papers“ aufgedeckt wird. Die Süddeutsche deckt nach und nach auf, dass Reiche und Superreiche jede Möglichkeit nutzen, um möglichst überhaupt keine Steuern bezahlen zu müssen. Die Infrastruktur und das Bildungssystem, welche von Steuern bezahlt werden, werden dabei gerne von den Großkonzernen genutzt. An den Kosten beteiligen möchten sie sich aber nicht.
Besonders dreiste Zeitgenossen drücken sich aber nicht nur von ihrer Steuerpflicht. Sie bedienen sich sogar schamlos am Staatsvermögen. Durch sogenannte Cum/Ex-Deals haben Finanzexperten einen Weg gefunden, dass eine einmalig gezahlte Kapitalertragssteuer mehrfach zurückerstattet wird, wodurch der Staat keine Kapitalertragssteuer einnimmt, sondern faktisch auszahlt.
Wenn wir nun ständig mit solchen Beispielen konfrontiert werden, müssen wir uns nicht wundern, dass sich unser moralisches Wertesystem auflöst. Wenn finanziell erfolgreiche Leute als Vorbilder betrachtet werden, ergibt sich die Botschaft: Sei egoistisch und skrupellos, dann wirst du es zu etwas bringen!
Wie bringen wir moralische Werte in die Postmoderne?
Früher waren es vielleicht die Kirchen, welche unter der Bevölkerung für gesunde moralische Wertvorstellungen sorgten. Auch wenn an der Existenz des christlichen Gottesbildes gezweifelt werden darf, ist das Wertesystem des Neuen Testaments durchaus vorbildlich.
Laut fowid betrug 2016 der Anteil an Atheisten bzw. Agnostikern in Deutschland zwischen 41 und 49 Prozent. Tendenz steigend. Natürlich ist daraus nicht abzuleiten, dass knapp die Hälfte der Bevölkerung keine Werte hat. Reflektierte Atheisten haben durchaus moralische Prinzipien. Wenn es im Bewusstsein der Menschen jedoch keine urteilende Instanz gibt, die spätestens im Jenseits bspw. die Habgier bestraft, gibt es, zumindest oberflächlich betrachtet, keinen Grund nicht nach übermäßigen Besitz zu streben – zumal viele „Vorbilder“ ja genau dies erfolgreich vorleben.
Differenziert betrachtet gibt es natürlich Gründe, die gegen das Zelebrieren von Habgier sprechen. Die Zerstörung der Umwelt sowie unseres Gemeinschaftswesens sind dabei nur zwei Aspekte von vielen.
Und diese differenzierte Betrachtung sollte auch die Grundlage darstellen, um moralische Werte in unserer Gesellschaft fest zu verankern. Wenn wir uns weiter entwickeln wollen, sollte das stichhaltige Argument unser Handeln bestimmen. Das Aufzeigen von Kausalitätsketten ist hierbei vielleicht ein wirksames Mittel.
Selbst für einfache Gemüter sollte nachvollziehbar sein, dass es auf Dauer nicht gut gehen wird, wenn wir ständig mehr von der Natur nehmen als sie regenerieren kann.
Ähnlich verhält es sich mit Geschäftsbeziehungen. Wenn erst einmal jeder über den Tisch gezogen wurde, wird es auch für seriöse Geschäftsleute schwierig, Vertrauen aufzubauen, um Geschäfte anzubahnen.
Letztendlich lässt sich das Thema auf die Frage reduzieren, ob unsere Gesellschaft reif genug ist, um ein vernünftiges, faires und nachhaltiges Miteinander gegenüber der plündernden Gier von Egoisten durchzusetzen.
Moralische Integrität benötigt eine Lobby
Wie bekommen moralische Werte wieder gesellschaftliches Gewicht? Ich würde mir wünschen, dass sich eine politische Initiative bildet, welche moralische Werte hoch hält ohne sich in Selbstgefälligkeit zu verlieren. Eine Bewegung, die das ehrliche und respektvolle Zusammenleben einfordert, anstatt nur konkrete Interessen zu bedienen.
Vor ein paar Jahren dachte ich, dass dies die Piratenpartei sein könnte. Aber auch hier zeigte sich schnell, dass Egoismen und Selbstgefälligkeiten schon auf unterster Ebene eine gute Idee verderben können.
Welche Partei dieses Thema aufgreift, ist auch nicht wichtig. Entscheidend ist, dass sich wichtige moralische Werte in Gesetze manifestieren müssen, welche eine dementsprechende Rechtsprechung nach sich zieht. Dazu wiederum bedarf es einer Lobby, welche dies mit Nachdruck einfordert. Wir benötigen also nicht weniger als einen Aufstand der Anständigen, damit Lug und Trug seine Salonfähigkeit verliert.